(Mein Text wurde mit "*" gekennzeichnet; Claas' Text mit "+")
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Seltener Schnapp-
schuss von Ilyvt
* "SECHS!!!1"
Claas schüttelte heftig den Kopf, um wieder klar zu werden
oder zumindest das, was er für "klar" hielt. Der HTML-Klumpen, der
ihn am Kopf getroffen hatte, saß hämisch grinsend vor ihm, während
er höchst unappetitlich auf ein wenig verschwendeter Bandbreite herumkaute.
Dann stapfte er ein paar Meter weiter und begann sich mit einem Signature-Virus
zu prügeln, der provozierend "Oje! Oje!" brüllte.
"SECHS!!! LEVITEN!!! GEGENDARSTELLUNG!!! ARRRRGGGGHHHH!!!"
Claas schaute sich unbehaglich nach der Herkunft der Stimme um,
die ihn geweckt hatte. Er erkannte den Schemen des Meisters, der hinter
dem nebulösen rotierenden "V" in Extase zuckte, während
vor Lachen brüllende Regulars um ihn herumtanzten und ihm die Zunge
'rausstreckten. Ihre Reality-Guns waren jetzt zum Teil mit Irony-Munition
oder Verarsch-Granaten geladen, und sie schossen mehrere Salven auf den
Meister ab, ohne daß dieser das überhaupt bemerkte.
'Merkwürdige Rituale haben die hier!' dachte er. 'Wie finde
ich denn jetzt diesen bescheuerten Gott und den Weg ins I-Net?'
Der Sig-Virus schlug derweil sichtlich begeistert dem HTML-Brocken
die Netiquette mit derartiger Wucht, die man normalerweise als "unnötige
überzogende Gewaltanwendung" bezeichnen würde, um die Ohren,
daß sich die Tags meilenweit in der Textwüste verbreiteten.
Als der Brocken nur noch leise wimmerte, verlor der Sig-Virus das Interesse,
näherte sich Claas und setzte sich ihm gegenüber. Er bestand
im Grunde nur aus einem kugelrunden Körper mit einem riesigen grinsenden
Gesicht auf der Vorderseite. Aus dem Körper wuchsen zwei so dünne
Ärmchen, daß sich Marc fragte, wie der Sig-Virus mit diesen
Trommelstöckchen eigentlich einen HTML-Brocken taglos schlagen konnte.
Die Ärmchen mündeten in Patschhändchen mit je drei Fingern.
"Tach auch!" sagte der Sig-Virus und kratzte sich in einer Gegend,
die man eventuell als seinen Bauch bezeichnen könnte. Vielleicht lag
die Zone der Kratzaktivitäten auch etwas unterhalb der Gegend, in
der man den Bauch eines Sig-Virus vermuten würde; ich habe nicht so
genau hingeschaut - auch ein Sig-Virus hat ein Recht auf Privatsphäre.
" Ich bin 'I-Love-you.vbs.txt'. Meine Freunde nennen mich Ilyvt. Du bist
neu hier?"
"Ja...äh... kennen wir uns?"
"Mag sein, Du hast mich eventuell schon mal im Usenet getroffen.
Ich ärgere die armen Oje-User, weißt Du?"
"Ja ja, draufgeschissen. Sag' mal, was willst Du eigentlich von
mir ?"
"Nie StarWars gesehen? Ich bin der süße lustige Sidekick,
der den Helden zur Seite steht und sich nachher prima durch Merchandising
vermarkten lässt - als Actionfigur, Knuddelpuppe, Zeichentrickserie,
auf Cola- und Cornflakes-Dosen usw. Ich sichere quasi den Wohlstand unserer
Produzenten. Außerdem kann ich Dir bei Deinem Problem helfen! Ach
übrigens - Du plenkst!"
"Oh sorry, kommt nicht wieder vor. Äh... Woher weißt
Du von meinem Problem?"
"Wir Sig-Viren kommen viel herum, da schnappt man eine Menge
auf. Du willst also ins I-Net?"
"Jau. Kennst Du einen Weg, wie wir dahinkommen?"
"Das ist einfach: Sobald der nächste Depp auf mich klickt,
mußt Du Dich nur an mir festhalten."
"Gibt es wirklich Idioten, die einfach auf irgendeinen Link in
einem Posting klicken?"
Ilyvt zwinkerte: "Glaub' mir, die Schwachköpfe sterben nie
aus. Davon gibt es mehr, als Du denkst!"
'Naja', dachte Claas, 'ich komme aus dag°. Ich glaube, mit
Schwachköpfen kenne ich mich ganz gut aus! Die sind aber nicht halb
so irr' wie das hier. Hey, reimt sich!' Eine Welle von Selbstmitleid und
Heimweh nach den heiligen Hallen von dag° mit seiner undurchschaubaren
Verwaltung, den blutigen Eichen- und Marmortischen und den Trolleichen
in den Ecken überkam ihn.
Lange konnte er sich nicht der besten Depression seit 2 Jahren
hingeben, denn direkt neben Claas und Ilyvt entstand ein Riss in der Textwüste
und eine IP-Nummer materialisierte sich. Aus der IP-Nummer bildete sich
ein zweidimensionaler Pointer im dreidimensionalen Raum, der sich in Richtung
Ilyvt bewegte.
Ilyvt grinste: "Schnell, halt' Dich an mir fest. Another loser
clicks again! What a dumbfuck!"
Schnell packte Claas seinen neuen Freund (wirklich niedlich,
der Kleine. Sein Abbild wird in Zukunft unverzichtbar, wenn man k3wl und
"in" sein möchte. Demnächst hier auf dieser Seite zum kostenpflichtigen
Download! Limitierte Auflage - deshalb schnell zugreifen!) an den Ärmchen
und beobachtete, wie sich unmittelbar vor ihnen ein Tunnel öffnete.
Im nächsten Moment wurde er mitsamt dem Sig-Virus in den Strudel hineingezogen.
Das I-Net öffnete sich in seiner vollen Pracht: Unmengen von Files
aller Arten sausten hin und her; undurchschaubare PGP-Mails rasten vorbei.
Tansaktionen wurden getätigt, Auktionsdaten übermittelt, Chats
begonnen, fortgeführt oder abgebrochen (vorzugsweise ohne Großbuchstaben
und mit dämlichen Pseudonymen wie "Nachtschlucker", "Thumbhead", "Geile_feuchte_Tussi12258"
oder auch "LaVerne" geführt), Termine abgefragt, eMail-Adressen oder
Informationen ausgetauscht, Dates getroffen oder gelöst. In bunter
Farbenvielfalt breitete sich das I-Net in alle 3 Dimensionen aus; unübersichtlich,
unheimlich und voller Gefahren. Es gab weder Boden noch Decke.
'Wenn das Gibson sehen könnte' dachte Claas aus keinem besonderen
Grund.
Ilyvt wechselte abrupt seinen Kurs und knallte gegen eine Website
mit dem Titel "Free XXX Liveshows! All free! Ok, almost free! Ok, ok, we
want your money, you horny ugly little wanking bastard without any dates!".
Verärgert über die Störung beschloss die Site, ihren Dienst
vorübergehend einzustellen, was einigen Leuten ziemlich den Abend
vermieste. Wahrscheinlich bestand zwischen der Selbstmordrate an diesem
Abend und der Nichterreichbarkeit der Seite eine gewisse Korrelation.
Claas verlor das Gleichgewicht, liess die Ärmchen von Ilyvt
los und taumelte durch das I-Net. Er mußte hilflos mitansehen, wie
Ilyvt mit einem "hotteen07.jpg" davonsauste und anscheinend ein paar ganz
und gar unanständige Sachen, die ich mich schäme wiederzugeben,
machte (wobei ich mich natürlich frage, wie der kleine, süße
und demnächst unentbehrliche Knubbel, den man bald von dieser Seite
kostenpflichtig herunterladen kann, diese ganz und gar unanständigen
Sachen, die ich mich schäme wiederzugeben, machte).
Claas spürte, wie ihm die Sinne schwanden, als die Informationen
des I-Nets nur so an ihm vorbeirauschten.
'Nicht schon wieder', dachte er und fühlte für einen
kurzen Moment ein verwandtschaftliches Gefühl zu einem Begonien-Blumentopf
in einer anderen weit entfernten Galaxis, konnte sich aber nicht erklären,
woher diese Empfindung stammte. Er beschloß, nicht weiter darüber
nachzudenken und statt dessen einfach bewußtlos zu werden.
In einem ganz anderen Bereich des I-Nets spie ein ganz anderer Tunnel
einen vollkommen verwirrten (naja, wie gesagt: Normalzustand) Marc aus.
Vollkommen wehrlos drehte er sich um seine eigene Achse, den provisorischen
Tacker ängstlich umklammernd, bis er schließlich gegen einen
riesigen Knoten knallte, über dem ein blinkendes, rotierendes Neonschild
reisserisch (und irgendwie überheblich, wenn ein Neonschild das überhaupt
sein kann) 'Gnutella-Client' verkündete. Ein BritneySpears.mp3 verliess
gerade mit hoher Geschwindigkeit den Knoten, bemerkte Marc, bremste anmutig,
schwebte sich in eine aufreizende Position und sprach ihn an: "Na Kleiner,
Lust auf ein paar ausgefallene Sauereien?"
"Grmgsaferfbllll" antwortete Marc sabbernd.
"Na dann eben nicht" antwortete das BritneySpears.mp3 entrüstet
und sauste schmollend davon.
'Weiber', dachte Marc, 'nur das eine in den Binären!'
Weiter dachte er nicht (wundert das wen), weil ein ziemlich großes
AndrewDiceClay.mp3 mit voller Wucht in ihn prallte und mit ihm davonraste.
Zur Abwechslung beschloss Marc, bewußtlos zu werden.
+ Langsam kam Claas wieder zu sich. Er schaute sich um. IP-Pakete rauschten
an ihm vorbei. Kreuzten die Bahn mit HTML-Brocken und wirtslosen Viren
auf der Suche nach neuen Opfern. Immer noch benommen, konnte er im letzten
Moment einer Email ausweichen. Im Vorbeiflug konnte er gerade noch das
Subject erkennen: "dagwars-Folge 2375". Was bedeutete das, bedeutete es
für ihn überhaupt etwas? Vorsichtig robbte er in eine Ecke, in
der der Verkehr offensichtlich nicht so stark war. Auf einem Schild konnte
er lesen "www.microsoft.de".
Hier fühlte er sich halbwegs sicher. Hoffentlich war diese
Sicherheit nicht trügerisch, denn hinter dem Schild vernahm er Jammern
und Wehklagen.
"Wenn doch nur Marc bei mir wäre!", dachte er bei sich.
In diesem Moment sah er ein großes MP3-File langsam vorbeiziehen
und darauf lag - Marc!
Schnell sprang Claas auf und zerrte Marc von dem vorbeidümpelnden
MP3. Drei, vier schnelle Schläge in Marc´s Gesicht und dieser
kam langsam wieder zu sich. Ebenfalls noch benommen fragte Marc:
"Wo bin ich? Im Himmel? In der Hölle? Zurück in dag°?"
"Nein!" antwortete Claas. "Im I-Net! Das gibt´s wirklich!"
Schaudernd schauten sich die beiden Helden um. Wie sollten sie
weiter vorgehen? Sollten sie überhaupt gehen? Wohin? Warum?
"Hier rumlungern bringt auch nichts! Laß uns weiterziehen
und unseren Auftrag erfüllen!", sprach Claas und schwebte los.
Kopfschüttelnd und sich ängstlich an seinem Tacker
festhaltend schwebte Marc humpelnt hinterher. Nachdem sie eine ganze Weile
ziellos umherirrten, blieb Marc - behindert ob seines verletzten Fußes
- erschöpft im freien Raum stehen.
"Schau mal!" sagte er und wies auf ein Schild über ihm,
auf dem in großen Lettern "www.google.com" prangte. "Ob dies etwas
mit "Gott" zu tun hat? Fängt schließlich auch mit "G" an?".
Erstaunt über Marcs Genialität hielt Claas ebenfalls an.
"Und nun?" fragte er.
Marc drehte sich zu dem Schild und hauchte "Gott?".
Nach 0,96 Sekunden rief eine Stimme hinter dem Schild:
"Resultate 1-10 von ungefähr 27,900"
"Eine Spur!" rief Marc. "Jetzt brauchen wir nur noch diesen Hinweisen
einzeln nachgehen und werden unseren Auftrag erfüllen können!"
In diesem Augenblick traf Claas eine Idee wie der Blitz! Endlich
konnte er seine Geheimwaffe beim Namen nennen, was ihm in dag° strikt
untersagt wurde. Aber bis hierher reichte selbst der Arm der allmächtigen
Oberschwester nicht: "Kamillentee!!"
Und die Stimme hinter dem Schild sprach: "Resultate 1-10 von ungefähr
1,460"
"So," sagte Claas "daraus braue ich uns jetzt meine Geheimwaffe"
und tat es!
"Neeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeiiiiiiiiiiiiiiiiiin" vernahmen die beiden
plötzlich eine Stimme aus der Ferne. Verwirrt blickten sie sich um.
Sie glaubten, die Stimme von Darth Bruegmann erkannt zu haben. War dies
möglich? Er war doch in dag°? Was tat er hier? War er es wirklich?
Wenn ja, warum? Wenn nein, egal?
Schnell nahmen beide einen Schluck frischen Kamillentee. Unsere
Helden wurden sofort ruhiger und begannen nachzudenken (sofern den beiden
dies überhaupt möglich war). Wohin sollten sie sich in dieser
für sie fremden Umgebung nun wenden? Nirgends konnten sie einen Wegweiser
entdecken, nur Chaos und ungeordneten Verkehr von IP-Paketen, Emails und
e-commerce-Daten. Eine verschlüsselte Kreditkartennummer sauste nur
haarscharf an ihnen vorbei.
"Nun," sagte Marc "folgen wir doch einfach dem ersten Hinweis."
"Wie soll das gehen? Da steht doch keine Wegbeschreibung!" fragte
Claas.
Bei näherem Hinsehen konnten sie jedoch feststellen, daß
eine Passage in dem Hinweis in blauer Schrift und unterstrichen war. Langsam
streckte Marc seine Hand danach aus. Claas blieb das "Stoooooooop!" im
Halse stecken. Zu spät! Marc hatte den Hyperlink schon berührt.
Plötzlich wurden unsere Helden von aus dem Nichts erscheinenden IP-Paketen
gepackt und los ging die wilde Reise. Vorbei an vielen unleserlichen Schildern,
toten Links rasten sie scheinbar unkontrolliert durch das I-Net. Sie prallten
an Firewalls ab, wurden umgeroutet und neu verschlüsselt. Immer schneller
wurde der wilde Ritt. Das war zuviel für unsere Helden. "Idiot" flüsterte
Claas noch zu Marc, dann schwanden beiden die Sinne.
Wo würde ihre Reise enden? Würde sie überhaupt enden? Gibt es von diesem Schwachsinn etwa noch eine Fortsetzung? Wen kümmert es? Und was ist mit Darth? Hat er sein Ziel ohne sein Zutun erreicht? Haben unsere Helden ihm in ihrer Dusseligkeit etwa in die Hände gespielt?
*Achtung! Ich weise darauf hin, daß Kamillentee in hohen Dosen schädlich für die geistige Gesundheit ist, wie man an diesen Zeilen unschwer erkennen kann. Ich empfehle, bei Kamillentee-Abhängigkeit auf Alkohol umzusteigen - führt zwar zu ähnlichen Aussetzern, aber diese werden dann von der Umwelt leichter akzeptiert.