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"Scheiße! Er ist einer von IHNEN!" lallte Claas entsetzt
und wünschte sich einen Kamillentee.
"Ich bin einer von was?!?" rief Jodo erstaunt aus und schnappte
sich einen "Freibeuter", bevor die deliriende eMail sie ihm wegschnappen
konnte.
"Du wohnst mitten in dieser Stadt der Verschwörer! Hier
ist das Grauen, die absolute Gehirnwäschefabrik, Heim der Massenmörder,
Manipulierer und Vertuscher! Dies ist das schwarze Loch, der Abschaum des
Universums, das..."
"Nana, so schlimm sind unsere Fummelbunker auch nicht. Da kenne
ich wirklich erschreckenderes" sagte Jodo und dachte kurz an einen Aufenthalt
in einem Keller in Duisburg.
hotteen07.jpg näherte sich vorsichtig Jodo und beäugte
ihn neugierig (Jodo beäugte ebenfalls ziemlich neugierig das nackte
Mädel, aber das finde ich vollkommen verständlich). "Er sieht
doch ganz harmlos aus" bemerkte sie und zog Jodo an seinen spärlichen
Haaren.
"Wenn er eine verdächtige Bewegung macht, tacker ich ihn
weg!" sagte Marc und hob drohend den provisorischen Tacker.
Jodo platzte ein wenig der Kragen, schnappte Marc den Tacker
aus der Hand und scheuchte die Mail von den Bierreserven fort. Die Mail
sah ihn mißbilligend an, bemerkte eine Flasche Rotwein, die einsam
und verlassen auf dem Tisch stand und näherte sich ihr vorsichtig,
wobei sie fast ein Bücherregal umwarf. "Hau ab" sagte die Rotweinflasche.
Grummelnd verzog sich die Mail in eine Ecke und schmollte.
Alle anderen starrten verdutzt die Rotweinflasche an, beschlossen
aber, nicht weiter darüber nachzudenken. Jodo warf der Mail resignierend
eine Dose "Freibeuter" zu. Hechelnd fing die Mail die Dose auf (hätte
eine Mail einen Schwanz, hätte sie in diesem Moment mit Sicherheit
wie wild gewedelt. Immerhin verlor die Mail vor freudiger Erregung einen
Teil ihrer Signatur), machte sich über den Inhalt her und fiel wieder
ins Delirium.
"Was machen wir denn jetzt?" fragte Claas, sichtlich geschüttelt
vom Kamillentee-Entzug.
"Wie wär's, wenn ihr mal versuchen würdet, den User
namens 'Gott' mit Hilfe des Internets zu identifizieren?" fragte Jodo.
Ilyvt schaute Jodo erstaunt an. Soviel Intelligenz hätte
er einem menschlichen Wesen eigentlich nicht zugetraut. "Au ja. Hast Du
Zugang zum Internet?"
Jodo verdrehte die Augen gen Decke. "Du Schwachkopf. Wie bist
Du wohl hier gelandet, hm?"
"Äh, sorry, ich vergaß. Muß an der ungewohnten
Umgebung liegen" sagte Ilyvt und warf einen eifersüchtigen Seitenblick
auf hotteen07.jpg, die Jodo mit unverhohlenem Interesse musterte. In Gedanken
machte er sich ein Häkchen an den Punkt "Jodo frittieren und langsam
rösten".
hotteen07.jpg hob Ilyvt auf den Stuhl vor dem Rechner, da seine
Schwebefähigkeiten in der realen Welt nicht funktionierten. Ungeduldig
stellte er die DFÜ-Verbindung her, machte eine ironische Bemerkung
über das verwendete Betriebssystem, tippte eine Adresse in den Kopf
des Browsers und wartete auf das Erscheinen der ersten Seite. Als diese
endlich geladen war, stieß er einen Ausruf der Enttäuschung
aus: "Was? So unspektakulär sieht das von dieser Seite des Monitors
aus?"
Ilvvts drei Finger huschten mit kaum wahrnehmbarer Geschwindigkeit
über die Tastatur. Während der Ladezeiten, die Ilyvt unendlich
erschienen, trommelte er ungeduldig auf dem Schreibtisch herum. Wärend
der unzähligen Abstürze des Browsers fluchte er leise vor sich
hin. Schließlich hatte er eine Adresse.
"Bingo!" sagte er und schaute Jodo an. "Hast Du eine Ahnung,
wo das sein könnte?"
Jodo blickte auf den Monitor. "Hey, das ist nicht weit von hier.
Dahin können wir sogar laufen!" Er blickte auf Ilyvt und die total
besoffene Mail. "Naja, sagen wir mal so: Der größte Teil von
uns kann dahin laufen."
Ilyvt terminierte die DFÜ-Verbindung, startete den DOS-Modus
und gab ein 'format c:' ein. Jodo wurde kreidebleich: "Warum hast Du das
gemacht?"
"Ich bin ein Sig-Virus. Wir sind halt so!" antwortete Ilyvt mit
breitem Grinsen.
Eine merkwürdige Gruppe schlich durch die Bielefelder Nacht. Aus
einem prall gefüllten Rucksack auf dem Bauch eines recht hübschen
Mädels, das mit Klamotten bekleidet war, die ihr mindestens zwei Nummern
zu groß waren, strahlten zwei Augen in die Dunkelheit. Jodo hatte
die Führung übernommen. Marc und Claas gingen hinter ihm her
und versuchten, so unauffällig wie möglich zu wirken, was ihnen
aber nicht ganz gelang, da sie oft staunend stehenblieben und sich
in der ungewohnten Umgebung umschauten. Die total besoffene eMail hatten
sie in Jodos Wohnung gelassen.
Zwei kleine Aliens kreuzten ihren Weg und unterhielten sich auf
alienesisch. Einer zeigte dem anderen ein Schriftstück, das mit merkwürdigen
Schriftzeichen bedeckt war, und beide lachten laut auf.
"Hast Du die beiden gesehen?" fragte Ilyvt aus seinem Versteck
heraus Jodo.
"Welche beiden? Meinst Du die beiden Blagen, die Pokemon-Sammelkarten
austauschen?" erwiderte Jodo.
Die beiden Aliens blieben stehen und musterten die Gruppe mißtrauisch,
weil sie die Herkunft von Ilyvts Stimme nicht bestimmen konnten. Sie spähten
und schnüffelten nach allen Seiten. Nach einer Weile gingen sie einfach
weiter, schauten sich aber hin und wieder nach den Eindringlingen um.
"Äh... Jodo... das waren irgendwelche unbestimmten Wesen,
die ich höchstens von Binaries kenne, die angeblich Außerirdische
aus Rosswell zeigen!" sagte Marc.
"Ihr spinnt doch!" erwiderte Jodo. "Das waren zwei ganz normale
Kinder." Kurzzeitig kam ihm der Gedanke in den Sinn, daß ganz normale
Kinder nicht mitten in der Nacht Pokemon-Sammelbilder austauschen würden,
allerdings wurde der Gedanke sofort nach seinem Erscheinen aus seinem Gehirn
gelöscht.
Sie bogen in eine Hauptstraße ein. In der Ferne waren die
Umrisse eines riesigen Raumschiffes zu erkennen. Golden glitzernd erhob
sich das fremdartige Gebilde über der Stadt. Etliche Aliens, die den
beiden Gestalten glichen, die die Besucher aus dem Netz zuvor erblickt
hatten, wuselten auf seiner Oberfläche herum und schienen Wartungsarbeiten
zu leisten. Die Besucher blieben überrascht stehen und betrachteten
das unbekannte Flugobjekt. Jodo schaute kurz zurück.
"Was ist denn jetzt schon wieder?" fragte er.
Claas deutete verunsichert auf das riesige Gebilde. "Was... was
ist das denn?"
"Das ist das Ratshaus. Habt ihr sowas noch nie gesehen?"
Ilyvt ging ein Licht auf. "Er sieht es wirklich nicht! Er glaubt,
das ist wirklich nur ein Gebäude. Typischer Fall von Umerziehungsmaßnahme."
'Totale Idioten', dachte Jodo. 'Sehen ungewöhnliche Dinge,
wo ganz und gar nichts ungewöhnliches zu sehen ist.'
Sie bogen in eine weitere Straße ein. Tausende von Arbeitern
liefen zwischen riesigen Fabrikhallen hin- und her und beschäftigten
sich mit unverständlichen Dingen. Ein Teil der Gestalten wurde so
schnell hin- und hergebeamt, das selbst ein aufmerksamer Beobachter wie
ich schnell den Überblick verlieren konnte. Ein Ufo startete mit lautem
Getöse in die Nacht, riesige Scheinwerfer leuchteten den Himmel aus,
der von merkwürdigen Flugobjekten wimmelte. Überall waren Geräusche
heftigster Betriebsamkeit zu hören.
"Ich hab' euch doch gesagt: Hier in dem Stadtteil ist überhaupt
nichts los. Tot. Hund begraben. Nicht mal das leiseste Geräusch zu
hören in dieser Wohnsiedlung" sagte Jodo.
"Ich wette, sie strahlen diese Umerziehungssignale durch Fernseher
und Monitore aus, damit die Leute diese Fabrikhallen nicht mehr wahrnehmen"
flüsterte Ilyvt.
"Welche Fabrikhallen?" fragte Claas. "Ich sehe nur Wohnviertel!"
Ilyvt seufzte und beschloß, weiter an seiner Theorie zu
arbeiten.
"Hast Du eigentlich eine Frau oder gar schon Kinder?" klimperte
hotteen07.jpg Jodo zu. Ilyvt sah in Gedanken einen Jodo vor sich, der am
Marterpfahl langsam gebraten wurde.
"Nein. Eltern sind alle gleich. Der einzige Weg, niemals so zu
werden wie unsere Eltern, ist der Verzicht auf eigene Kinder. Kinder schaden
dem Charakter und sind der Entwicklung der Menschheit zu Offenheit und
Abkehr vom Spießertum entgegengesetzt wirksam. Erst wenn die Menschheit
lernt, daß das Kindergebären nur Konflikte ergibt, wird eine
Verbesserung der Welt möglich."
"Oh" stammelte hotteen07.jpg enttäuscht und drückte
Ilyvt in seinem Rucksack an sich.
"Ich will Kinder! Ich liebe Kinder! Ich will einen ganzen Stall
davon!" rief Ilyvt aus seinem Versteck.
Jodo blieb an einem kleinen Häuschen stehen. Dieses Haus
wirkte in der Gegend absolut deplaziert, denn es wies eine ganz normale
Architektur auf. Dies war die Sorte von Häusern, gegen deren Mauern
man schon mal laufen konnte, weil sie so unscheinbar sind, daß sie
bei einer flüchtigen Betrachtung überhaupt nicht auffallen. Dies
war das architektonische Gegenstück zum VW Golf, dem regelmäßig
unschuldige Fußgänger zum Opfer fielen, weil sie dieses langweilige
und gewöhnliche Automobil gar nicht mehr bemerkten.
Ilyvt witterte Gefahr: Wenn man schon in dieser kuriosen Umgebung
einem Wohnhaus den Anstrich der vollkommenen Normalität geben mußte,
konnte das nur bedeuten, daß es den Besitzern des Gebäudes sehr
wichtig war, das Geschehen hinter diesen Mauern vor der Welt zu verbergen.
Ein einsames Schild prangte am Eingangr: "Trollzentrale Abteilung Usenet".
Jodo öffnete die Tür. Ein unendlicher Korridor erschien
vor seinem Auge. Zu beiden Seiten des Korridors führte eine kaum zu
überschauende Anzahl von Türen zu kleinen Büros, hinter
denen eifriges Tippen zu hören war. Abgesehen von dem Klackern der
Tastaturen und einem merkwürdigen Surren war das Haus totenstill.
Vorsichtig schlichen unsere Helden durch den Korridor. Glücklicherweise
schluckte der dicke Teppich, der mit seltsamen Symbolen wie Pyramdien,
einem großen 'V' und der Zahl '6' geschmückt war, das Geräusch
ihrer Schritte. Die Wände waren mit dunklem Holz verkleidet, das einen
moderigen Geruch ausströmte. Auf den Türen rechts und links
des Ganges waren unter einer Milchglasscheibe kleine Schildchen befestigt,
die die Zimmernummer und einen Namen enthielten. Durch die Milchglasscheiben
der Türen fiel das elektrische Licht von Monitoren auf der anderen
Seite der Türen. Es stellte die einzige Beleuchtungsquelle des Korridors
dar. Von der Decke baumelte eine dicke Spinne, die bedenkenlos den "Tarantula-Gedächtnispreis"
erhalten hätte ('Hey', dachte die Spinne. 'Was heißt hier 'hätte'?
Ich habe den Tarantula-Gedächtnispreis erhalten. Recherchier demnächst
besser, Du Möchtegernautor!').
Ilyvt war ganz unbehaglich zumute. Gedanken rasten durch seinen
Kopf.
(geh nicht in das Zimmer 217 oh Goddess denk nicht an Zimmer
217 oh nein nicht an das Grauen in Zimmer 217 denken bloß nicht die
Tür zu Zimmer 217 öffnen)
Der Sig-Virus schauderte. Woher war dieser Gedanke gekommen?
Wie zum Teufel kam er ausgerechnet auf Zimmer 217?
Claas blieb vor einer Tür stehen. "He Leute," brüllte
er die anderen an. "Ich glaube, ich habe es gefunden!"
Der Rest der Gruppe sprang erschreckt in die Höhe. Zusammengeduckt
blieben sie stehen und lauschten. Das Klackern der Tastaturen ging ohne
Unterbrechung weiter, anscheinend hatte niemand von ihnen Notiz genommen.
Marc dachte kurz daran, Claas mit dem Tacker zu perforieren, entschied
sich aber dann doch dagegen, da das Geräusch des Tackers und Claas'
Todeskampf eventuell zu auffällig gewesen wäre.
Die Helden huschten zur Tür. Ilyvt las kurz die Aufschrift
auf dem Schildchen: "217 - Gottes M3M3". Ihm wurde noch mulmiger
zumute. Marc legte vorsichtig eine Hand auf den Türgriff und drückte
ihn hinunter.