Der Elephanten-Mensch
Original-Titel: The Elephant Man
Herstellungsland: UK / USA 1980
Regie: David Lynch
Buch: Eric Bergren
Christopher de Vore
David Lynch
Darsteller: John Hurt
Anthony Hopkins
John Gielgud
Anne Bancroft

Der Film beschreibt das Leben des durch eine seltene Krankheit schwer entstellten (historischen) John Merricks ab dem Zeitpunkt, in dem er in das Leben des Arztes Dr. Frederick Treves tritt. Von Treves anfangs als reines Studienobjekt missbraucht, entwickelt sich zwischen den beiden unterschiedlichen Männern bald eine tiefe Freundschaft, während deren Dauer der Arzt alles unternimmt, um Merrick ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen.

Lynchs zweite abendfüllende Regie-Arbeit nach "Eraserhead" ist eine echte Überraschung innerhalb der Werke des Regisseurs. Lynch erzählt seine Geschichte geradlinig in grobkörnigen Schwarz-Weiß-Bildern und verzichtet fast vollständig auf die surrealistische Einlagen, für die er bekannt ist. Dabei steht ihm eine Riege ausgezeichneter britischer Darsteller zur Verfügung (allen voran der phantastische John Hurt in der Maske des "Elefanten-Menschens" sowie Anthony Hopkins als Dr. Treves). Produziert wurde der Film von Mel Brooks, dessen Ehefrau Anne Bancroft auch im gleichnamigen Bühnenstück die Rolle des Theater-Stars, der eine Zuneigung für den behinderten Mann entwickelt, gespielt hat.

Gerade beim ersten Ansehen ist der Streifen schwer erträglich, schildert er doch das Leiden von Merrick im victorianischen England anscheinend ungeschönt, ohne dabei allzu sentimental zu wirken. Lynch schafft es sogar, uns einen Spiegel vorzuhalten: Man erfährt, daß Merrick die Attraktion jeder Freakshow ist; daß die Leute reihenweise vor seinem Anblick davonlaufen. Wir wollen diesen Mann sehen; ihn begaffen, aber Lynch zeigt uns seinen "Star" nicht. Später führt Treves den "Elefanten-Mensch" seinen Kollegen als Studienobjekt vor; wieder ist Merrick nichts anderes als ein Schaustück - und abermals verweigert Lynch uns einen Blick auf den Mann. Erst später, als eine Krankenschwester sich vor seinem Anblick so erschreckt, daß sie in panische Angstschreie ausbricht, bekommen wir Merrick zu sehen. Zu diesem Zeitpunkt hat man längst Mitleid mit dem Mann entwickelt; sein grauenerregendes Angesicht, daß in dieser Szene genauso viel Angst zeigt wie das der Krankenschwester, erweckt eher Schuldgefühle denn Erschrecken - Schuldgefühle deshalb, weil man vorher ebenso wie die Besucher der Freak-Shows ungeduldig auf die Enthüllung der "Horrorgestalt" gewartet hat.
Das Mitleid für den Menschen Merrick steigert sich noch, als man gewahr wird, daß sich hinter den Enstellungen ein sensibler, intelligenter junger Mann verbirgt, dem auch später kaum glückliche Augenblicke vergönnt sind. Dadurch ist man geneigt, manche allzu eindeutige Manipulierung wohlwollend zu übersehen. Merricks Kampf gegen seine Umwelt erscheint heroisch; man bewundert diesen Mann, der sein Schicksal trotz aller Widernisse zu meistern scheint und niemals wirklich mit der Welt hadert, sondern statt dessen die ihm von einigen wenigen Leuten entgegengebrachte Zuneigung dankbar annimmt und dadurch seinen Platz in der Gesellschaft findet.

Aufgrund seines Themas hat "Der Elefanten-Mensch" fast durchwegs überdurchschnittliche Kritiken erfahren. Ich allerdings habe mich gefragt, was uns denn der Film sagen möchte - zumal wenn man ihn mit den wirklichen Geschehnissen vergleicht. Vordergründig mag der Film nicht zu rührselig bzw. grob manipulierend erscheinen. Wie jedoch der Film die tatsächlichen Begebenheiten verfälscht, möchte ich an einer Szene aufzeigen: Treves möchte seinen Vorgesetzten überzeugen, daß Merrick keinesfalls der geistig behinderte Mensch ist als der er erscheint. Zu diesem Zweck bringt er ihm einige Phrasen sowie einen Vers aus der Bibel bei. Carr-Gomm (gespielt von John Gielgud) durchschaut jedoch das Spiel und stellt Treves vor dem Zimmer des "Elefanten-Menschens" zur Rede. Aus dem Off hört man noch immer die Stimme Merricks, der den Psalm rezitiert. Plötzlich hält Treves inne, sagt: "Das habe ich ihm nicht beigebracht!" und beide stürmen das Zimmer, wo sie erfahren müssen, daß Merrick tatsächlich mehr ist als ein Idiot. Vom Drehbuch her macht diese Szene Sinn; aus dem Vorspann wissen wir zudem, daß das Skript auf den Erinnerungen des Arztes beruht und nehmen deshalb an, daß sie sich tatsächlich so zugetragen haben könnte.
In Wirklichkeit war es allerdings so, daß Merrick erst sprechen konnte, nachdem man ihm einer Operation am Kiefer unterzogen hatte. Statt einer Darstellung der Realität bekommt man eine im Grunde plumpe Dramatisierung geboten, deren Absicht, den Zuschauer zu manipulieren, angesichts des historischen Themas umso ärgerlicher ist.
Mit diesem Hintergrundwissen ist es natürlich unmöglich, in dem Film etwas anderes zu sehen als eine weitere Bearbeitung der wahren Geschichte, die lediglich eine Interpretation bzw. Botschaft der Macher zum Ausdruck bringen soll denn eine Wiedergabe der tatsächlichen Begebenheiten darstellt. So ist denn auch das Ende zu sehen, das den Tod Merricks als eine Art Unfall darstellt. Merrick konnte nur im Sitzen schlafen, da er sonst durch das Gewicht des Kopfes erstickt wäre. Im Film erscheint es so, als ob sich Merrick, nachdem er anscheinend endlich von der Gesellschaft akzeptiert wurde, sich aus dem Wunsch, endlich auch von seinen Möglichkeiten her ein normaler Mensch zu sein, wie jeder andere Mensch zu Bett begibt und dabei umkommt. Eine andere Interpretation ist von den Szenen her fast unmöglich (allerdings muß man sagen, daß sie Treves' Schlußworten im Buch entspricht, der sich gerne eine solche Auslegung wünscht). Die andere Möglichkeit, daß Merrick schlicht und einfach Selbstmord begangen hat, weil die Schmerzen unerträglich wurden, passt weder in den Kontext des Films noch wird sie auch nur ansatzweise in Betracht gezogen.
Kritisch ist auch die gesamte Darstellung des Charakters von John Merrick. Bei Lynch erscheint er als ein Mann von guten Manieren, der die lockere Konversation mit Mitgliedern der vornehmen Gesellschaft schätzt und sich auch ansonsten gerne wie der perfekte Gentleman aufführt. Die Frage ist, wo der historische Merrick diese Manierismen gelernt haben soll, wenn sein einziger Kontakt zur Aussenwelt die Leute im Waisenhaus und später sein "Besitzer" waren.
Auch muß man anmerken, daß der Zeitraum, in dem der Film spielt, nicht genau zu bestimmen ist. Daß sich die wahre Geschichte über sieben Jahre erstreckte, wird nicht klar - eher hat man das Gefühl, die Story entwickle sich in einem viel knapperem zeitlichen Rahmen.

Ganz auf surrealistische Mätzchen verzichten konnte Lynch auch bei diesem Werk nicht, wie sich in den Anfangs- und Endbildern des Filmes zeigt. Man hat Lynch vorgeworfen, diese Szenen seien unnötig und besonders der Anfang sei unlogisch. Wenn man beide Sequenzen jedoch als Träume von Merrick versteht, wie es auch der Film selbst nahelegt, indem er einen Traum des "Elefanten-Menschens" im Bild zeigt, macht auch die Anfangszene Sinn.
Hervorzuheben wäre noch, daß man einige Bilder als Kritik an der beginnenden (Über-)Technologisierung der Welt auslegen könnte, denn des öfteren (auch in dem oben angesprochenen Traum Merricks) werden Auswirkungen der Technik auf den Menschen gezeigt - sei es ein Arbeiter, der von Maschinen verstümmelt wurde; seien es ausgemergelt erscheinende Männer, die immer die gleichen unsinnigen Handgriffe ausführen.

Man möge mich nicht falsch verstehen: Trotz der angesprochenen Mängel ist "Der Elefanten-Mensch" ein überdurchschnittlicher Film mit großartigen darstellerischen Leistungen und einer gelungenen Inszenierung, man sollte ihn allerdings nicht mit einer Schilderung der wirklich stattgefundenen Ereignisse verwechseln. Der Film soll anscheinend den Zuschauern Hoffnung machen, indem er zeigt, wie jemand, der es erheblich schwieriger hat als die meisten anderen Menschen, sein Schicksal meistert und trotz aller Hindernisse Freundschaft und Liebe findet (das hat er mit dem Theater-Stück gemein, obwohl er vorgibt, nicht auf diesem Stück zu beruhen. In der Bühnenfassung wurde Merrick übrigens komplett ohne Maske dargestellt). Die tatsächlichen Ereignisse waren weitaus deprimierender und auch trauriger, als uns der Film zeigt. Wenigstens gelingt es dank des Filmes teilweise, dem Zuschauer das tragische Schicksal eines ungewöhnlichen Menschens nahezubringen und auf diese Weise etwas Verständnis für behinderte Menschen zu wecken, die immer noch aus der Gesellschaft ausgegrenzt werden.

Die Masken des John Merricks, der in Wirklichkeit "Joseph" hieß, sind übrigens keine Erfindung der Phantasie der F/X-Künstler. Nach Merricks Tod wurden Abgüsse seiner Gliedmassen gemacht, die auch heute noch in einem Museum in London eingesehen werden können. Anhand dieser Abbilder fertigte man das Make-Up von John Hurt, der unter der Menge an Latex nicht wiederzuerkennen ist.


2002 Hannes Schwarz